Fluchthelfer aus Ostberlin berichtet

„Er hält die dunkelbraune Aktentasche, die ihm der Kurier gegeben hat, fest in der Hand, als er die Friedrichstraße entlang auf den Grenzübergang zugeht. „Ernst Lämmli“, ruft er sich den Namen, der in seinem Pass steht, ins Gedächtnis. „Ich bin Ernst Lämmli, Schweizer, 17. Jahre, aus Zürich, geboren am 4. Juni.“

So beginnt der Roman, der auf der Lebensgeschichte von Joachim Neumann beruht. Joachim Neumann, der selbst 1961 kurz nach dem Mauerbau mit einem fremden Pass über die innerdeutsche Grenze flieht und der es sich danach zu Lebensaufgabe macht, für andere Fluchttunnel unter der Sektorengrenze hindurch zu graben. Zwischen 1962 und 1964 gibt es solche Massenfluchten von Ost- nach West-Berlin und Joachim gräbt zusammen mit anderen mehreren davon mit. Maja Nielsen, die nicht nur Romane schreibt, sondern auch ausgebildete Schauspielerin ist, schafft es binnen nur weniger Sätze, ihren Text mit Leben zu füllen. Aber der besondere Reiz der Veranstaltung ist eben, dass auch Joachim selbst in der Alten Kelter ist. Immer wieder unterbricht Nielsen ihre Lesung und er berichtet selbst, wie es weiterging, welche Schwierigkeiten auftraten und auch welche Ängste sie ausgestanden hätten. Das alles erzählt der heute 85-jährige Zeitzeuge ohne Pathos, sondern ganz gelassen und gerade deshalb eindrücklich. 

Es entsteht ein intensives Bild davon, wie das war im geteilten Berlin in den 1960er, wie die Staatsgrenze eine Stadt zerteilt und die Menschen beim Versuch die DDR zu verlassen, um ihr Leben fürchten müssen. Republikflucht ist seit 1957 in der DDR strafbar und Beihilfe zur Flucht ebenfalls. Als die Passage gelesen wird, in der die Stasi-Haft von Joachims Freundin beschrieben wird, deren erster Fluchtversuch scheitert, ist es sehr still im Raum. Die Erleichterung, als „Chris“ es beim zweiten Versuch tatsächlich in den Westen schafft, ist dann ebenso spürbar. Andere hatten weniger Glück…

Dann gibt es noch Gelegenheit, den „Tunnelbauer“ zu befragen über seine Motive, sein Leben danach und auch seine Sicht auf die Zeit der deutschen Teilung. Die Fanny Schüler:innen haben viele Fragen und er beantwortet geduldig und ganz offen. Erst nach der Wiedervereinigung habe er überhaupt angefangen über seine Rolle bei den Tunnel-Fluchten zu sprechen. Immerhin habe er noch Eltern und Freunde in der DDR gehabt und die wollte er nicht in Schwierigkeiten bringen. Außerdem habe er es auch nicht für so eine große Sache gehalten – das sahen die Teilnehmer der Lesung alle anders. Eine ganz besondere Veranstaltung!