Im Rahmen eines Angebotes von Frau Daneck in Verbindung mit dem Fanny Leicht Gymnasium durfte der Musik LK der J1 am Dienstag, dem 04.10.2023 eine Inszenierung der Oper „Carmen“ im Staatstheater Stuttgart besuchen. Die von Sebastian Nübling 2006 erschiene Neuinterpretation der Oper Carmen erntete wegen ihrer bildlichen Anpassung an die Moderne, als auch den vielen inhaltlichen Fragen, die sich im Verlauf der Vorstellung ergaben, durchaus Kritik, konnte sich jedoch behaupten und gilt heute als eine der bekanntesten Inszenierungen des Klassikers.
Der Inhalt des ursprünglichen Werkes wird auch in dieser Inszenierung, gebunden an die originale Musik, beibehalten. So verliebt sich auch hier der Soldat Don Jose in die schöne Carmen, die in einer Zigarettenfabrik arbeitet. Nachdem er ihr aus dem Gefängnis verhilft, und selbst zur Strafe einen Monat in Haft sitzt, kommen sich die beiden näher. Jose ist jedoch gefangen in seinen Pflichtgefühlen als Soldat und seiner Ehre, die er über das Leben als Schmuggler an der Seite von Carmen stellt, welches sie ihm anbietet. Gekränkt von der Abweisung wendet sie sich Ihrem nächsten Verehrer, dem Torero Escamillo zu. Jose ist in der Zwischenzeit dazu gezwungen, sein Soldatenleben abzulegen und Willens, Carmen zu folgen, welche jedoch nichts mehr von Ihm wissen will. Geblendet von Eifersucht kann er nicht von Ihr lassen und tötet beinahe Escamillo in einem Kampf, nachdem dieser von seiner Liebe zu Carmen schwärmt. Getrennt werden die beiden nur voneinander, indem Don Jose Micaela, einer Waise im Haus seiner Mutter und seiner ehemalige Verlobten, begegnet. Dieser folgt er zurück, nachdem sie ihm von dem nahenden Tod seiner Mutter berichtet. Den Höhepunkt erreicht die Oper im vierten Akt: dem Stierkampf. Escamillo präsentiert Carmen an seiner Seite, die jedoch vor dem Eingang der Arena zurückbleibt, wo Don Jose bereits auf sie wartet. Hier ereignet sich das große Finale, indem Don Jose Carmen ein letztes Mal flehentlich auffordert, zu ihm zurückzukehren und gemeinsam ein neues Leben zu begründen. Carmen verweigert sich ihm jedoch, mit der Begründung, dass sie die Freiheit liebe, und lieber frei sterben würde, als jemandem zu gehören. So endet das Drama in Carmens Tod durch Don Jose, der sich zeitgleich mit dem Applaus der tobenden Menge angesichts des bezwungenen Stieres durch den Torero ereignet.
Don Joses Charakter, auf dem der Fokus in der modernen Version liegt, ist geprägt von Unschlüssigkeit und Konfrontation seiner zwei Welten: seiner Leidenschaft zu Carmen und seiner Liebe zu Micaela und seiner Mutter, seinem Verlangen und seinem Pflichtgefühl, seinem Herzen und seinem Verstand. Die Oper spiegelt diesen Kampf, der in der Degradation Joses endet, wider- mit der Moral, dass Liebe den Verlust der Würde bedeutet, denn Jose verliert alles: seine Familie, seinen guten Ruf, seinen Platz in der Gesellschaft, seinen Beruf und am Ende auch seine Liebe. Denn Carmen spiegelt die Freiheit und Selbstbestimmung einer Frau als auch der Liebe selbst wider, welche sie in der Habanera besingt. Denn Liebe lässt sich nicht erzwingen und endet bei einem Versuch so tragisch, wie dass Schicksal dieser beiden. Auch symbolisiert die Beziehung zwischen Carmen und Jose die egoistische Liebe, denn beide sind selbstsüchtig: Carmen in ihrer Liebe und dem Wunsch, dass Jose sein Leben aufgeben muss, um mit ihr ein neues nach ihren Vorstellungen zu begründen. Joses hingegen darin, dass er Carmen nicht loslassen kann und seine Gewalttätigkeit, Eifersucht und Begierde zu ihrem Tod führen. Wie wenig Respekt und Verständnis er für sie jedoch hatte, wird nicht nur an seinem Verhalten, sondern auch in seinen letzten Worten „Meine Carmen“ deutlich: denn Carmen hat klar ausgedrückt, niemandem gehören zu wollen und ihren unbeugsamen Willen selbst angesichts des Todes bewiesen. Dass Jose durch seine Aussage nicht nur ihren Willen, sondern auch ihr Bildnis mit Füßen tritt, zeugt deutlich von der Art der Liebe, die er für sie empfindet: den Drang, einen begehrten Gegenstand zu besitzen. In seiner Gier entmenschlicht er Carmen und zerstört sich somit selbst. Es handelt sich letztlich um den Zerfall eines Menschen aufgrund seiner impulsiven Entscheidungen geleitet von der Versuchung, der alle Menschen letztlich zum Opfer fallen.
In Sebastian Nüblings Interpretation wird diese Essenz anders veranschaulicht: das Stück beginnt nämlich mit einem radikalen Bruch. Gezeigt wird Don Jose anfangs in einem Sessel sitzend, während Carmen bereits tot vor ihm auf dem Fußboden ausgebreitet liegt. So spielt sich das Stück in Joses Gedanken als reine Rückblende der sich ereigneten Begebenheiten ab – und ist somit natürlich von seiner Sicht geprägt. Diese wird in dem meist stummen, grünen Männchen Surplus (deutsch: Überzähliger) dargestellt, welche die Schattenseite Joses und dessen Begierden pantomimisch verkörpern soll. Kontrovers diskutiert ist die Bedeutung seiner Existenz dahingehend, dass neben ausfallenden, exzentrischen Gebärden vermehrt obszöne Gesten im Vordergrund stehen, die in Kombination mit improvisationsähnlichen, durcheinandergewürfelten lückenfüllenden Darbietungen des Chors mehr an eine Kindergarten-Comedy-Show erinnern als an eine tragische Oper. Diese scheinbaren Überbrückungsversuche sind es, die auf so viel Missfallen stoßen, da sie als solche gewertet und verstanden werden. Denn ohne Kontext und Sinn erschweren sie die Verfolgung des Handlungsstranges, denunzieren und vernichten die Essenz und den Charakter der Oper, als auch die Werte, die diese zu übermitteln versucht. Im Kontrast dazu stehen jedoch einige Szenen, die ein völlig neues Licht auf die Figur oder die Konstellationen der Charaktere als solche werfen und die fantastische Besetzung, mit der die Oper gekürt wurde.
Letztlich bleibt die Streitfrage nach der besten Fassung eine ungelöste, da sie stark geschmacksabhängig ist, man allgemein dennoch festhalten kann, dass neue Interpretationen immer Spielraum auf den Umgang und die Darstellung zulassen und letztlich als solche betrachtet werden müssen: unabhängig und frei von Wertung. Den Besuch empfinden alle Teilnehmer als durchaus gelungen, da man sich nicht nur mit dem Werk musikalisch als auch inhaltlich kritische befasst, sondern zahlreiche neue Erfahrungen gewinnen konnte und Kultur grundsätzlich eine Bereicherung des Selbst als auch Erweiterung des Horizonts voraussetzt. Insofern danken die Schüler:innen der Schulleitung und der zuständigen Lehrkraft für die Ermöglichung dieses Besuches und freuen sich über weitere Angebote.